Das grösste Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung von Eckhart Tolle

von Eckhart Tolle

29. Januar 2019

Erleuchtung — was ist das?

Ein Bettler hatte mehr als dreissig Jahre am Strassenrand gesessen. Eines Tages kam ein Fremder vorbei. «Hast du mal ne Mark?», murmelte der Bettler und hielt mechanisch seine alte Baseballmütze hin. «Ich habe dir nichts zu geben», sagte der Fremde und fragte dann: «Worauf sitzt du da eigentlich?» «Ach», antwortete der Bettler, «das ist nur eine alte Kiste. Da sitze ich schon drauf, solange ich zurückdenken kann.» «Hast du da mal reingeschaut? », fragte der Fremde. «Nein,» sagte der Bettler, «warum auch? Es ist ja doch nichts drin.» «Schau hinein», drängte der Fremde. Es gelang dem Bettler, die Kiste aufzubrechen. Voller Erstaunen, Unglauben und Begeisterung entdeckte er, dass die Kiste mit Gold gefüllt war.

Ich bin dieser Fremde, der dir nichts zu geben hat und der dir rät, nach innen zu schauen. Nicht in irgendeine Kiste wie in dem Gleichnis, sondern viel näher: in dich selbst. «Aber ich bin doch kein Bettler», höre ich dich sagen. Alle, die ihren wahren Reichtum noch nicht gefunden haben, die strahlende Freude des Seins und den tiefen, unerschütterlichen Frieden, der damit einhergeht, alle die sind Bettler, mögen sie materiell auch noch so reich sein. Sie suchen im Aussen nach Vergnügen und Erfüllung, nach Wertschätzung, Sicherheit und Liebe, während sie einen Schatz in sich tragen, der all diese Dinge beinhaltet und zugleich unendlich viel grösser ist als alles, was die Welt anzubieten hat. Das Wort Erleuchtung lässt an eine Art übermenschlicher Fähigkeit denken und das Ego möchte daran festhalten. Doch Erleuchtung ist ganz einfach dein natürlicher Zustand von empfundener Einheit mit dem Sein. In diesem Zustand bist du mit etwas Unermesslichem und Unzerstörbarem verbunden, mit etwas, das paradoxerweise du selbst bist und das zugleich

etwas viel Grösseres ist als du. Es geht um das Entdecken deiner wahren Natur jenseits von Name und Form. Die Unfähigkeit zu fühlen, dass du derart verbunden bist, führt zu der Illusion von Trennung. Trennung von dir selber und von deiner Umwelt. Dann nimmst du dich selbst, bewusst oder unbewusst, als ein isoliertes Fragment wahr. Angst entsteht, innere und äussere Konflikte werden die Norm. Ich liebe die schlichte Definition des Buddha für Erleuchtung: «Das Ende allen Leidens.» Daran ist nichts übermenschlich, oder? Diese Definition ist allerdings nicht vollständig. Sie erklärt nur, was Erleuchtung nicht ist: Leiden. Aber was bleibt übrig, wenn es kein Leiden mehr gibt? Buddha schweigt dazu, und sein Schweigen deutet an, dass du es selbst herausfinden musst. Er benutzt eine negative Definition, so dass der Verstand keinen neuen Glauben daraus machen, es nicht zu einer übermenschlichen Fähigkeit hochstilisieren kann, zu einem Ziel, welches du niemals erreichen kannst. Trotz dieser Vorsichtsmassnahme glaubt die Mehrheit der Buddhisten weiterhin, dass Erleuchtung nur etwas für einen Buddha ist, nicht für sie selbst, zumindest nicht in diesem Leben.

von links: Kim Eng, Pablo Sütterlin, Eckhart Tolle, Robin Sütterlin. Rheinfelden 2015

Du hast den Begriff Sein benutzt. Kannst du erklären, was du damit meinst?
Das Sein ist das ewige, immer gegenwärtige Eine Leben jenseits der unzähligen Erscheinungen, die Geburt und Tod unterworfen sind. Doch das Sein befindet sich nicht nur jenseits von Formen, sondern auch tief im Innern der Formen als ihre innerste unsichtbare und unzerstörbare Essenz. Das bedeutet, das Sein ist jetzt zugänglich für dich, ist dein eigenes tiefstes Selbst, deine wahre Natur. Aber versuche nicht, es mit dem Verstand zu erfassen. Du erfährst es nur, wenn der Verstand still ist. Wenn du gegenwärtig bist, wenn deine Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Jetzt gerichtet ist, dann wird das Sein spürbar, aber es entzieht sich dem Begreifen des Verstandes. Die Bewusstheit des Seins wiederzuerlangen und in dem Zustand von «fühlendem Erkennen » zu verbleiben, das ist Erleuchtung.

Wenn du vom Sein sprichst, meinst du dann Gott?
Wenn ja, warum sagst du es nicht? Das Wort Gott hat seine Bedeutung in tausenden von Jahren, in denen es missbraucht wurde, verloren. Manchmal benutze ich es, aber eher sparsam. Mit Missbrauch meine ich hier, dass Menschen, die nicht einmal einen flüchtigen Einblick in den Bereich des Heiligen, in die unendliche Weite hinter diesem

Wort hatten, es mit grosser Überzeugung benutzen, als wüssten sie, wovon sie reden. Oder sie argumentieren dagegen, als wüssten sie, was sie da ablehnen. Dieser Missbrauch führt zu absurden Überzeugungen, Behauptungen und Ego-Fantasien wie zum Beispiel «Mein oder unser Gott ist der einzig wahre Gott und dein Gott ist falsch» oder zu Nietzsches berühmter These: «Gott ist tot.» Das Wort Gott ist zu einem geschlossenen Konzept geworden. Sobald dieses Wort ausgesprochen wird, entsteht eine Vorstellung; vielleicht nicht mehr die von einem alten Mann mit weissem Bart, aber immer noch eine Vorstellung von jemandem oder etwas ausserhalb von dir und, ja fast zwangsläufig, von einem männlichen Jemand oder etwas. Weder Gott noch Sein noch irgendein anderes Wort kann die unaussprechliche Wahrheit hinter diesem Wort beschreiben oder erklären. Daher ist die einzig wichtige Frage, ob das Wort eine Hilfe oder eher eine Behinderung ist, wenn es darum geht, die Realität zu erfahren, auf die es hinweist. Weist es über sich selbst hinaus auf jene transzendente Realität oder wird es viel zu leicht zu einer Idee in deinem Kopf, an die du glaubst, zu einem mentalen Götzen? Das Wort Sein erklärt gar nichts, ebenso wenig wie das Wort Gott. 

Sein hat allerdings den Vorteil, dass es ein offenes Konzept darstellt. Es reduziert das unendliche Unsichtbare nicht zu einer endlichen Einheit. Es ist unmöglich, sich darunter etwas vorzustellen. Niemand kann einen Besitzanspruch auf das Sein anmelden. Es ist deine eigenste Essenz, und durch das Gefühl deiner eigenen Gegenwärtigkeit hast du einen direkten Zugang dazu. Es ist die Erkenntnis Ich bin, bevor du sagst: Ich bin dies oder ich bin das. Daher ist es nur ein kleiner Schritt von dem Wort Sein zur Erfahrung dieses Seins.

Eckhart Tolle, Langenthal 2015


Was ist das grösste Hindernis, das dem Erfahren dieser Realität im Wege steht?
Identifikation mit deinem Verstand. Dadurch werden Gedanken zwanghaft. Die Unfähigkeit, das Denken anzuhalten, ist eine schlimme Krankheit, aber wir sehen das nicht so, wir halten es für normal, weil fast jeder darunter leidet. Der unaufhörliche geistige Lärm hindert dich daran, den Raum innerer Stille zu finden, der vom Sein untrennbar ist. Er erschafft ausserdem ein falsches Verstandgeborenes Selbst, das einen Schatten von Angst und Leiden wirft. Wir werden uns das alles später noch genauer anschauen. Der Philosoph Descartes glaubte, er habe die fundamentalste Wahrheit gefunden, als er seine berühmte Aussage machte: «Ich denke, also bin ich.» In Wirklichkeit hat er damit den grundlegendsten Irrtum ausgedrückt, nämlich den, Denken mit Sein und Identität mit Denken gleichzusetzen. Der zwanghaft Denkende, also fast jeder, lebt in einem Zustand von scheinbarer Getrenntheit, in einer krankhaft komplexen Welt ständiger Probleme und Konflikte, einer Welt, die ein Spiegel für die wachsende Zerstückelung des Verstandes ist. Erleuchtung ist ein Zustand von Einheit und somit von Frieden. Einheit mit dem Leben und seiner manifesten Erscheinung, der Welt, sowie Einheit mit deinem wahren Selbst und dem unmanifesten Leben – Einheit mit dem Sein. Erleuchtung ist nicht nur das Ende allen Leidens und der ständigen Konflikte im Innen und Aussen, sondern auch das Ende der schrecklichen Versklavung in zwanghaftes Denken. Was für eine unglaubliche Befreiung! Identifikation mit deinem Verstand erschafft einen dunklen Schleier von Konzepten, Bezeichnungen, Vorstellungen, Wörtern, Urteilen und Definitionen, der jede wahre Beziehung behindert. Er gerät zwischen dich und dein Selbst, zwischen dich und deine Mitmenschen, zwischen dich und die Natur, zwischen dich und Gott. Dieser Schleier aus Gedanken erschafft auch die Illusion von Trennung, die Illusion, dass es dich gibt und getrennt davon den/die anderen. Dann vergisst du die grundlegende Tatsache, dass du auf einer Ebene, die tiefer ist als körperliche Erscheinungen und separate Formen, eins bist mit allem, was ist. Mit «vergessen» meine ich, dass du dieses Einssein nicht mehr als offensichtliche Wahrheit fühlen kannst. Du magst glauben, dass es wahr ist, aber du weisst es nicht mehr. Ein Glaube kann ja tröstlich sein. Aber erst durch deine eigene Erfahrung wird er befreiend. Denken ist zu einer Krankheit geworden. Krankheit entsteht, wenn Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Zum Beispiel ist es normal, wenn Zellen sich im Körper teilen und vermehren, aber wenn dieser Prozess sich unkontrolliert ohne Bezug zur Ganzheit des Körpers fortsetzt, dann wuchern diese Zellen und Krankheit entsteht.

Neale Donald Walsch und Eckhart Tolle

Der Verstand ist ein hervorragendes Instrument, wenn er richtig benutzt wird. Bei falschem Gebrauch kann er allerdings sehr destruktiv werden. Genauer gesagt ist es nicht so, dass du deinen Verstand falsch gebrauchst – du gebrauchst ihn normalerweise überhaupt nicht. Er gebraucht dich. Das ist die Krankheit. Du hältst dich für deinen Verstand. Das ist die Wahnidee. Das Instrument hat die Macht über dich gewonnen. Ich kann dem nicht ganz zustimmen. Es stimmt, dass ich mich oft sinnlosen Gedanken hingebe wie die meisten, aber ich habe auch die Wahl, meinen Verstand dafür einzusetzen, Dinge zu bekommen oder zu erreichen, und das tue ich ständig. Nur weil du ein Kreuzworträtsel lösen oder eine Atombombe bauen kannst, bedeutet das nicht, dass du deinen Verstand benutzt. Genauso wie Hunde es lieben, auf Knochen herumzukauen, liebt der Verstand es, sich an Problemen festzubeissen. Darum mag er Kreuzworträtsel und baut Atombomben. Du hast nicht das geringste Interesse an Kreuzworträtseln oder Atombomben. Ich frage dich: Kannst du dich von deinem Verstand befreien, wann immer du möchtest? Hast du den Knopf zum Abschalten gefunden? Du meinst, ganz mit dem Denken aufzuhören! Nein, das kann ich nicht, ausser vielleicht für einen kurzen Moment. Dann benutzt der Verstand dich. Du bist unbewusst mit ihm identifiziert, deshalb weisst du nicht einmal, dass du sein Sklave bist. Es ist fast so, als seist du besessen ohne es zu wissen, und deshalb hältst du das Wesen, das dich besetzt, für dich selbst. Freiheit beginnt, wenn du erkennst, dass du mit dem Verstand, dem Denker, der dich im Zustand der Besessenheit hält, nicht identisch bist.

Diese Erkenntnis befähigt dich, den Denker zu beobachten. Sobald du beginnst, den Denker zu beobachten, wird eine höhere Bewusstseinsebene aktiviert. Dann beginnst du zu erkennen, dass es einen enormen Bereich von Intelligenz jenseits des Denkens gibt, dass dein Denken nur einen winzig kleinen Aspekt dieser Intelligenz ausmacht. Du erkennst auch, dass alles, was dem Leben wahren Wert verleiht – Schönheit, Liebe, Kreativität, Freude, innerer Friede -, seinen Ursprung jenseits des Verstandes hat. Du beginnst zu erwachen. 

Beim vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus dem Buch Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, erschienen im Kamphausen Verlag.

https://www.bpv.ch/referenten/eckharttolle


Über Eckhart Tolle

Eckhart Tolle, spiritueller Lehrer und Autor, wurde in Deutschland geboren und studierte an den Universitäten in London und Cambridge. Als er neunundzwanzig Jahre alt war, veränderte eine tiefgreifende innere Wandlung sein Leben auf radikale Weise. Die nächsten Jahre brachte er damit zu, diese Wandlung zu verstehen, zu integrieren und zu vertiefen – der Beginn einer intensiven inneren Reise. Später begann er, in London als Berater und spiritueller Lehrer mit Einzelpersonen und Gruppen zu arbeiten. Seit 1995 lebt er in Vancouver, Kanada.

Eckhart Tolle ist der Autor des New York Times Bestsellers Jetzt! Die Kraft der Gegenwart (in 33 Sprachen übersetzt) und des gefeierten Nachfolgers Eine neue Erde, zwei der einflussreichsten spirituellen Bücher unserer Zeit.

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