Haemin Sunim: Die Liebe zu den nicht perfekten Dingen
von Haemin Sunim
27. September 2018
Es gibt Filme, die hinterlassen in uns dauerhaft einen tiefen Eindruck. In meinem Fall war das der Film «Aus der Mitte entspringt ein Fluss».
Der Film spielt Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts vor Montanas traumhafter Naturkulisse in einer beschaulichen Kleinstadt. Er erzählt die Geschichte der McLeans, deren Liebe gleichermassen dem Fliegenfischen wie der Religion gilt. Der Vater ist Pastor und hat zwei Söhne von grundverschiedenem Charakter. Während Norman, der ältere, als Professor gemäss den Vorstellungen des Vaters lebt, verfällt der jüngere Sohn Paul, der Lokalreporter ist, immer mehr dem Alkoholismus und der Spielsucht, bis er zuletzt wegen seiner Spielschulden auf der Strasse erschlagen wird. Bei seiner Sonntagspredigt trauert der Vater in tiefer Verzweiflung um den Verstorbenen. Vor der versammelten Gemeinde drückt er die Liebe zu seinem zweiten Sohn, seine Emotionen bewusst zurückhaltend, mit folgenden Worten aus: «Wir können sie vollkommen lieben, auch wenn wir sie nie vollkommen verstehen.»
Für den Vater ist schwer nachvollziehbar, warum Paul ein so ausschweifendes Leben geführt hat. Dennoch hat er nie aufgehört, seinen Sohn zu lieben, da für ihn Liebe das menschliche Fassungsvermögen, die menschliche Vernunft übersteigt.
Anstatt jemanden nur zu lieben, den man versteht und dessen Verhalten einem gefällt, wird hier von der tiefen Liebe eines Vaters erzählt, die auch dann nicht aufhört, wenn jemand sich in einer Weise verhält, mit der man nicht einverstanden ist. Wie ein Fluss fliesst diese Liebe tief im Herzen beständig dahin.
Wenn wir unser Leben betrachten, sehen wir viele unvollkommene Dinge, so wie wir Staub auf einem alten Spiegel entdecken. Wenn wir in uns gehen, erkennen wir, dass wir nicht fehlerfrei sind: Unsere Worte und unser Handeln weichen voneinander ab, in den Beziehungen zu anderen knirscht es, unsere sorgsam ausgearbeiteten Pläne für die Zukunft gehen gründlich schief. Auch verletzen wir immer wieder bewusst und unbewusst Menschen und tun Dinge, die unser Gewissen belasten und die wir bereuen.
Wenn wir aber unsere Familie, Freunde und Kollegen betrachten, erkennen wir, dass sie auch nicht anders sind als wir selbst. Deine Kinder, die nicht auf dich hören; deine Eltern, die dich nicht verstehen; dein Ehepartner, der sich nicht so verhält, wie du dir das eigentlich vorstellst; gute Freunde, deren Lebensgewohnheiten nicht gerade gesund sind, und um die du dir Sorgen machst. Und jeden Morgen bringt das Fernsehen aus aller Welt unaufhörlich Nachrichten von Konflikten und Auseinandersetzungen, Unfällen und ungewöhnlichen Vorfällen. Die Liste scheint unendlich zu sein.
Und doch: Selbst wenn wir in einer Welt der Unvollkommenheit leben, können wir nicht aufhören, sie zu lieben. Unser Leben ist einfach zu wertvoll, um es mit Hass und Abneigung gegenüber Dingen anzufüllen, die uns nicht gefallen oder die wir nicht verstehen. Wenn wir auf spiritueller Ebene reifer werden, entwickeln wir mehr Mitgefühl und lernen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Dies lehrt uns wiederum, der Unvollkommenheit, unserer und die der anderen, mit mehr Nachsicht und Grosszügigkeit zu begegnen. Auf diese Weise können wir unser Leben so betrachten, wie eine Mutter liebevoll ihr Kind ansieht.
Erst wenn du dich selbst wertschätzt, wird auch die Welt dich wertschätzen.
Sei nicht zu nett Warst du früher eines jener Kinder, denen man oft sagte, sie seien brav? Hast du deinen Eltern, Lehrern und älteren Geschwistern selten widersprochen und dich stets zurückgenommen, anstatt dich zu beschweren? Gibst du auch jetzt als Erwachsener stets dein Bestes, um es anderen recht zu machen, und vermeidest es, anderen zu nahe zu treten? Lässt du alles über dich ergehen, selbst wenn du auf Menschen triffst, die dich belästigen oder ungerecht behandeln? Und äusserst du ungern Worte, die anderen Menschen wehtun oder deine Beziehung zu diesen belasten könnten? Ich habe viele solcher «braven» Menschen getroffen, die unter Depressionen, Angstzuständen oder Verbitterung leiden – innere Zustände, die ihren Ursprung in schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Solche Menschen sprechen stets in ruhigem Ton, sind sanftmütig und fürsorglich gegenüber ihren Mitmenschen. Sie opfern sich regelmässig auf und verzichten auf eigene Vorhaben und Pläne, sobald andere Menschen sich das wünschen. Ich fragte mich, warum ausgerechnet so gutherzige Menschen oft Opfer mentaler und emotionalen Leids werden. Tatsächlich bin auch ich von klein auf introvertiert und sanftmütig gewesen, weshalb man mich öfter als folgsames Kind gelobt hat. Ich war überzeugt, dass es richtig ist, ein braver Sohn zu sein, der seinen Eltern keinen Kummer bereitet, und ein guter Schüler, der den Lehrern gehorcht. Doch als ich in Amerika studierte, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass es Probleme mit sich bringt, immer nur gutmütig zu sein. Bei Gruppenarbeiten musste ich mit klugen und selbstbewussten Studenten zusammenarbeiten, wobei an mir meist die Aufgaben hängenblieben, die sonst niemand übernehmen wollte. Um Konflikte zu vermeiden, nahm ich das hin. Auf Dauer geriet ich deswegen enorm unter Stress. Als ich mein Herz öffnete und über meine Probleme mit einem älteren amerikanischen Kommilitonen sprach, gab er mir folgenden Rat: «Sei zuerst gut zu dir selbst, und erst dann zu anderen!»
Ich war wie vom Donner gerührt. Bis dahin hatte ich mich ständig darum gesorgt, was meine Mitmenschen über mich dachten. Nicht eine Sekunde hatte ich darauf verwendet, mir vorzustellen, was es hiesse, mich selbst zu lieben.
Bei den vorliegenden Texten handelt es sich um Auszüge aus dem Buch Love for Imperfect Things. Die deutsche Ausgabe erscheint
im September 2018 unter dem Titel Die Liebe zu den nicht perfekten Dingen (ISBN 978-3-95803-159-3) im Scorpio Verlag.
www.scorpio-verlag.de
Ich glaube, als «gut» oder «brav» bezeichnen wir im Allgemeinen Menschen, die ihre Meinung nicht stark vertreten und den Wünschen anderer schnell nachgeben. Mit anderen Worten: Menschen, die es gewohnt sind, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer zu unterdrücken. Wenn mir jemand immer zuhört und sich nach mir richtet, mag ich ihn oder sie und spreche von einem «guten Menschen». Es scheint, dass «gut» damit zusammenhängt, zu viel an andere zu denken und sich selbst wenig Ausdruck zu verschaffen.
Natürlich trifft es nicht immer zu, aber bei diesen Menschen kann man häufig das gleiche Muster in der Erziehung entdecken. Viele sind in einem Elternhaus mit einem besonders strengen Vater oder einer dominanten Mutter aufgewachsen. Anderen wurde inmitten mehrerer Geschwister zu wenig elterliche Aufmerksamkeit zuteil, weshalb sie ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung entwickelten. Um diese zu erhalten, versuchten sie, den Eltern alles recht zu machen. In anderen Fällen hatten Mutter und Vater keine gute Beziehung miteinander oder die finanzielle Situation der Familie war angespannt, wodurch die Betroffenen sich besonders bemühten, ihren Eltern keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten.
Das Problem dabei ist, dass wir unsere Interessen und unsere Emotionen vernachlässigen, wenn wir uns allzu sehr auf das Leben und die Wünsche anderer fokussieren. Wer seine Gefühle von klein auf für nicht wichtig erachtet, verdrängt und ignoriert, hat auch später als Erwachsener kein Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und für das eigene Selbst. Dann begegnen uns vielleicht Menschen, die uns ungerecht behandeln oder uns das Leben schwer machen, doch anstatt unser Gegenüber damit zu konfrontieren, fressen wir unseren gerechten Zorn in uns hinein und machen uns schliesslich selbst Vorwürfe: «Warum bin ich so ein Idiot, dass ich nicht anspreche, was mich ärgert?»
Nimm dir diesen Punkt bitte unbedingt zu Herzen: Die eigenen Emotionen sind zu keiner Zeit gering zu achten. Niemand sollte sie leichtfertig übergehen, vielmehr sind sie etwas Wertvolles, das die volle Aufmerksamkeit verdient. Führe dir vor Augen, dass Gefühle nicht verschwinden, nur weil du sie verleugnest. Viele psychische Probleme entstehen dadurch, dass die Energie unterdrückter Emotionen keinen gesunden Weg findet, aus dem Herzen hinaus zu fliessen, während das Verdrängen zur Gewohnheit wird. Wasser, das gestaut wird, anstatt zu fliessen, wird faulig. Diese Aussage lässt sich auch auf Gefühle übertragen.
Es ist nie zu spät. Versuche von nun an, zuerst auf deine innere Stimme zu hören und darauf, was du dir wünschst, bevor du die Erwartungen anderer erfüllst. Du wirst es auf Dauer nicht aushalten, den Bitten deiner Mitmenschen zu entsprechen, obwohl du es eigentlich nicht tun willst. Überwinde dich stattdessen dazu, offen zu sagen, was du fühlst, damit dein Gegenüber dich verstehen kann. Mache dir zuvor keine Gedanken darüber, ob dir der andere das verübeln könnte oder ob es eure Beziehung belasten würde. Vielleicht hätte derjenige den Wunsch nicht geäussert, wenn er deine Abneigung gekannt hätte.
Wenn andere einen Kaffee trinken möchten, du aber lieber einen Chai Latte möchtest, dann sage «Ich will lieber einen Chai Latte», ohne dich dabei schlecht zu fühlen. Du darfst das sagen. Natürlich ist es begrüssenswert, wenn wir uns gegenüber unseren Mitmenschen rücksichtsvoll verhalten, aber wir haben auch die Pflicht, uns selbst wertzuschätzen.
Über Haemin Sunim
Haemin Sunim, geboren in Süd-Korea, ist einer der bekanntesten Vertreter des Zen-Buddhismus. Als junger Mann ging er in die USA, um in Berkeley, Harvard und Princeton Film zu studieren, nur um zu erkennen, dass er sein Leben dem Buddhismus und spirituellen Leben widmen möchte. Er kehrte nach Korea zurück, wurde Mönch und wurde einer der meistgelesenen spirituellen Autoren. Sein Buch Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst verkaufte sich weltweit mehr als vier Millionen Mal, und er hat über eine Million Follower auf Twitter (@haeminsunim) und Facebook. Wenn Haemin Sunim nicht auf Reisen ist, um Vorträge in der ganzen Welt zu halten, lebt er in Seoul. In Seoul hat er die Schule des gebrochenen Herzen gegründet, eine Einrichtung, in der Menschen in Schwierigkeiten kostenfrei Unterstützung finden.