Das Beste aus beiden Welten

von Gordon Smith

29. Juli 2015

Eine Nacht in jener Zeit werde ich nie vergessen. Es war, um genau zu sein, Dienstag, der 8. März 1987.

    

Ich hatte die Arbeit im Friseursalon beendet und fühlte mich entspannt, weil ich am nächsten Tag frei haben würde. Ich übergab die Schlüssel an Christine, die das Geschäft mittwochs öffnete. Sie war glücklich und aufgeregt, weil sie zusammen mit ihrem Bruder und einem seiner Freunde gerade eine Wohnung im trendigen Westend Glasgows gekauft hatte. Die drei durchlebten diese vergnügliche Phase, in der man sich einen eigenen Ort schafft. Ausserdem sollte sie ihren Bruder später in einer Kneipe im Zentrum treffen. Brian arbeitete an einem der grossen Theater im Herzen der Stadt, und nach den Aufführungen gingen sie oft mit den Kollegen etwas trinken. Christine liebte den Taumel, die Schwärmerei. Jedenfalls erinnere ich mich an diesen Abend wegen der guten Stimmung, in der wir beide waren, als wir den Salon verliessen und hinter uns abschlossen. Danach schaute ich mir im Fernsehen einen Film mit Steve Martin an: The Man with Two Brains (Der Mann mit zwei Gehirnen).

Das prägte sich mir ein, weil ich den Film für Christine aufnahm, die ja unterwegs war und ihn nicht sehen konnte. Anschliessend ging ich zur üblichen Zeit ins Bett, also kurz vor Mitternacht, denn damals blieb ich länger auf. Sofort sank ich in Schlaf. Ich träumte, doch durch die Qualität des Traumes fühlte sich alles sehr real an. Da waren Leute in einer Strasse, die ich nicht kannte und die mir doch irgendwie vertraut vorkamen. Ich befand mich irgendwo in Glasgow und war mir bewusst, dass das Licht ringsum eine seltsame blaue Färbung hatte. Eine andere Person stand hinter mir, aber mein Kopf drehte sich nicht um, sodass ich nicht sehen konnte, wer sie war. Es herrschte eine Stille, die sich von jeder mir bekannten Stille unterschied. Nein, ich hatte sie schon einmal empfunden, in der Kindheit, aber das spielte jetzt keine Rolle. Ich mochte dieses warme, wohlige Gefühl, so als wäre ich im Innern einer Blase oder dergleichen … Dann erwachte ich plötzlich und erblickte Brian Peebles, Christines Bruder. Er stand direkt vor mir in unserem Schlafzimmer, und ich setzte mich im Bett auf. Brian machte einen guten Eindruck. Sein Gesicht war durch etwas belebt, eine Art Energie vielleicht. Er lächelte, kein strahlendes, sondern ein wissendes Lächeln, und ich freute mich sehr für ihn. Er trug ein Karohemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren, und enge Jeans. Daran erinnere ich mich, weil ich ihn nur von den Knien aufwärts wahrnehmen konnte. Gerade als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, verschwand er durch den Boden des Schlafzimmers.

Der Anblick des Bruders meiner Freundin, der im Schlafzimmer stand, während Katie neben mir schlief, ängstigte mich nicht im Geringsten; aber in dem Moment, da er sich förmlich in Luft auflöste, begann mein Herz wie eine Trommel zu schlagen. Vor meinem inneren Auge sah ich Leute, die auf mich zugingen. Meine Augen waren nun weit geöffnet, während jene anderen noch immer da waren, wie in einem fernen Hologramm. Ich konnte sie deutlich erkennen, obwohl sie Meilen von mir entfernt waren. Instinktiv drehte ich mich zur Seite und drückte auf die Taste des Radioweckers. Die Ziffern der Uhr leuchteten auf und zeigten 06:30 an. Zugleich brüllte die Stimme eines Mannes: «Im Westend von Glasgow ist ein Feuer durch ein Haus gefegt!» Katie erwachte und setzte sich auf. «Was iss los, stimmt irgendwas nicht?» Ich antwortete ihr nicht, denn in meiner Vision sah ich zwei Polizisten, die sich auf unsere Haustür zubewegten, und sprang aus dem Bett. Von unserem Schlafzimmer konnte ich die beiden Beamten nicht erspäht haben. Dazu hätte ich durch drei Wände sehen müssen … Es klopfte laut an unsere Wohnungstür, aber ich stand schon dahinter, um sie den Polizisten zu öffnen. «Gordon Smith, sind Sie Gordon Smith? » «Ja.» Mehr brachte ich nicht heraus. Ich starrte die beiden nur an. «Gab ’n Unfall, und Miss Christine Peebles hat mich gebet’n, Ihnen diese Schlüssel zu übergeb’n.» Der Mann betrachtete mich mit ausdrucksloser Miene. «Iss sie okay?», fragte ich, während mein Herz nun heftig pochte. Die Polizisten wollten sich dazu nicht äussern, aber dann trat Katie hinter mich und sprach von der Radiomeldung, in Buckingham Terrace sei ein Feuer ausgebrochen.

Ihre Worte durchzuckten mich wie ein Blitz, denn in diese Strasse waren Christine und Brian gezogen. Ich wusste, dass es sich um ihre Wohnung handelte. Ich bekleidete mich und ging zum Geschäft. Von dort rief ich einige von Christines Freunden an, die mir mitteilten, dass der Brand in ihrer Wohnung war, aber dass sie wohlauf und mit einer Freundin zusammen sei. Man habe ihr Beruhigungsmittel gegeben. Weitere Berichte über den Brand folgten mit dem Hinweis, eine Person sei in den Flammen umgekommen. Es wurde kein Name genannt. Doch etwa eine Stunde später hiess es, Brian Peebles sei in den frühen Morgenstunden einem Hausbrand in Buckingham Terrace zum Opfer gefallen. (…) Gegen den Wunsch vieler Leute nahm ich Christine und Brians Freundin Fiona mit zu Somerset Place, wo die Glasgow Association of Spiritualists dreimal wöchentlich ihren Gottesdienst abhielt. Die Halle war aus viktorianischer Zeit, in der Ecke führte eine schmiedeeiserne Treppe zu einer höheren Ebene, und gut zweihundert Sitze standen vor einer niedrigen Bühne mit Vorhang im Hintergrund. Sie war leer bis auf ein Transparent mit der Aufschrift Nature, Truth and Light! (Natur, Wahrheit und Licht!) An diesem Sonntag war das angereiste Medium eine Frau aus Edinburgh namens Mary Duffy. Wenn die Versammlungsteilnehmer auch nur deren Namen erwähnten, war ihre Aufregung deutlich zu spüren.

Ich hatte mir alles schon innerlich ausgemalt. Hier das dicht gedrängte Publikum, dort die alte Hochstaplerin, die das übliche Geschwätz von sich geben würde. Notleidende Menschen würden sich an jedes Wort aus ihrem Munde klammern, weil sie genau das hören wollten. Doch Mrs Duffy überraschte mich. Sie trat auf die Bühne und sprach auf äusserst intelligente Art darüber, wie der ganze Mediumismus funktioniert. Sie wirkte weder herablassend noch wie eine Hochstaplerin.


Glasgow, wo Gordon aufgewachsen ist


Diese sehr liebenswürdige, offene und aufrichtige Frau unternahm keinerlei Versuch, die Leute zu täuschen.

Ihre Redeweise zeugte von Entgegenkommen und Grosszügigkeit. Ich schaute zu Christine und Fiona, die an ihren Lippen zu hängen schienen, und bemühte mich, objektiv zu bleiben – bis sie plötzlich ihre Aufmerksamkeit direkt auf uns richtete. «Darf ich bitte zu der jungen Frau hier vorn auf dieser Seite sprechen?» Wir drei waren wie getroffen von einer Elektroschockwaffe, denn keiner von uns würde je vor weit über zweihundert Zuhörern das Wort ergreifen. «Liebes, kann ich einfach nur Ihre Stimme hören und dann mit Ihnen arbeiten?» Wieder zuckten wir zusammen. Mrs Duffy blickte direkt zu Christine und fügte mit dem fürsorglichsten Gesichtsausdruck hinzu: «Liebes, man muss kein Medium sein, um zu wissen, dass Sie gerade einen schrecklichen Verlust erlitten haben. Also lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich später, wenn Sie gestatten, unter vier Augen mit Ihnen sprechen werde. Ihre Mutter lässt Ihnen mitteilen, dass er bei ihr ist …» Die Frau schien ein Gespräch mit einem unsichtbaren Wesen neben ihr zu führen, und ich nahm ein Licht um sie wahr, das dem der Sonne glich. Natürlich hatte ich vorher Licht um Menschen gesehen, aber nie in solcher Intensität. «Liebes, ich möchte das nicht in der Öffentlichkeit tun, und sicherlich brauchen Sie sowas auch nicht unbedingt, jedenfalls unterhalten wir uns später. Aber dieser junge Mann dort …» Sie schaute und deutete hinter mich, doch da war kein junger Mann. Redete diese Frau etwa zu mir? Als sie ihre Augen auf mich richtete, bestand daran kein Zweifel mehr. «Liebes, weiss Ihre Freundin, dass Sie ein Medium sind?» Halt den Mund, verrückte Lady! wollte ich erwidern, bemerkte aber, starr auf meinem Sitz, dass jeder mich nun fixierte. Alle Blicke brannten mir im Rücken, als Mrs Duffy fortfuhr: «Ja, Sarah ist hier bei mir. Sie ist Ihre Grossmutter, Lieber.

Oh, sie ist so stolz auf Sie und sagt, dass Sie ihre Gegenwart schon einmal gespürt haben, stimmt’s?» Ich glaube, ich brachte keinen Ton heraus und habe wohl nur genickt. O mein Gott, ich war ein heimliches Medium, das nun der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. «Lieber, Ihre Grossmutter sagt mir, dass Sie in fünf Jahren auf genau dieser Bühne stehen werden, wo ich gerade stehe. Meine Güte, Sie haben viel Arbeit zu tun für den Geist …» Ich wollte, dass sie damit aufhörte. Christine drehte mir den Kopf zu und betrachtete mich mit einem Ausdruck schieren Entsetzens. Die Veranstaltung war insgesamt ziemlich verblüffend und fesselnd. Dieses Medium gab die genauen Namen einiger Zuhörer bekannt, sogar deren Adressen, Orte und Daten, an denen Menschen verstorben waren. Als Mrs Duffy hinterher mit Christine und Fiona sprach, war ich noch tiefer beeindruckt. Sie sagte, Brian befinde sich in einem friedlichen Zustand, umgeben von Geistern, die nach ihm schauten, seine Mutter sei bei ihm, es sei an der Zeit, zu trauern und dann das Leben fortzusetzen. Sie bestärkte die beiden in ihrem Gefühl, ihn zu vermissen, erklärte ihnen aber auch, dass er weiterhin manches bewusst wahrnehmen könne. Das machte irgendwie Sinn, zumal sie ihnen nichts verkaufen oder sie zu ihrer Religion bekehren wollte.

Damit war für mich die Sache vorbei. «Entschuldigen Sie, junger Mann, aber entwickeln Sie Ihre Gabe?» Gut, ich mochte diese Frau und die Botschaft, die sie meiner Freundin in diesem äusserst traurigen Moment übermittelte, aber nun sollte sie sich wirklich zurückhalten. «Verzeihen Sie, aber ich weiss nicht, wovon Sie reden. Ich bin kein …» Irgendwie schenkte sie meinen Worten keine Beachtung. «Betty, wer führt einen guten Kreis, in den wir diesen jungen Mann einführen könnten?» Der Begriff «Kreis» erzeugte in meinem Kopf sofort Bilder von Ziegen, Jungfrauen und schwarzer Magie und bereitete mir Unbehagen. «Ist er das, der in der ersten Reihe sass, Mary?» Betty Whitelaw sah genau so aus, wie ich mir ein Medium vorstellte. Ihr stahlgraues Haar war hinten zusammengeknotet, während eine weisse Strähne vor der Stirn den Eindruck erweckte, als hätte sie einen Schreck bekommen. Sie sprach sehr sanft mit meinen Freundinnen und reichte mir dann zwanglos ein Stück Papier mit Name und Adresse. «Wenn Sie je das Gefühl haben, Marys Ausführungen genauer nachgehen zu wollen, würde ich diese Person empfehlen. Sie versteht sich sehr gut darauf, die Gaben eines Mediums zu entwickeln. Und schauen Sie nicht so besorgt, wir scheinen bloss verrückt, hahaha …» Daraufhin entfernte sie sich. Als ich ihren Scherz hörte, fühlte ich mich schon besser – es fiel schwer, diese Frau nicht zu mögen. Doch dann dachte ich: Verdammt, wie konnte sie wissen, was mir gerade durch den Kopf ging?

Auszug aus «Das Beste aus beiden Welten» von Gortdon Smith mit freundlicher
Genehmigung des Allegria Verlags. Allegria Verlag 2015, ISBN: 978-3-548-74629-6


Über Gordon Smith

Gordon Smith, wurde 1962 in Glasgow geboren. Er ist Vater zweier erwachsener Söhne und lebt bei London. Von klein auf konnte er Verstorbene sehen und hören. Diese Fähigkeit hat in seiner Kindheit Unruhe gestiftet worauf er lernte, sich den medialen Wahrnehmungen zu verschliessen. Eines Nachts, als er 24 Jahre alt war, erschien der Bruder eines Freundes neben seinem Bett. Später erfuhr er, dass dieser in derselben Nacht in einem Feuer gestorben war. Bei einem anschliessenden Besuch eines spiritualistischen Gottesdienstes teilte ihm ein Medium mit, dass er später selbst als Medium arbeiten werde.

www.gordonsmithmedium.com

Diesen Artikel teilen

Aktuelle Veranstaltungen zu diesen Themen

Kategorien

Medialität

Direktlink