Erkenne Dich selbst – Erkenne Deine Mutter

von Thomas Young

29. Januar 2015

Als Menschen haben wir alle auf unserer Lebensreise eines gemeinsam: Wir sind aus unserer Mutter heraus geboren

Für die mehrmonatige Dauer des Aufenthalts ist ihre Gebärmutter unser ganzes Universum – mehr noch wir haben eine spirituelle Erfahrung des Einsseins, die für diesen Aufenthalt kennzeichnend ist. Wenn wir sehr viel später im Leben als langjährig spirituell Meditierende in unseren Kontemplationen und Gebeten ein Erleben des Einsseins suchen, stossen wir auf eine Ebene in uns, die mit dieser Urerfahrung im Mutterleib verknüpft ist. Wir wünschen Einheit, ohne jedoch regressiv zu werden, sprichwörtlich in den Mutterleib zurückzuwollen. Der Charakter der bis dahin entwickelten Beziehung zur personalen Mutter spiegelt unsere Beziehung zur trans-personalen Mutter. Ist die Mutter eine karge Frau, wird das Universum uns auf dieser Ebene karg erscheinen. Ist sie übergreifend, werden wir – egal ob als Mann oder Frau – Abwehrmechanismen entwickeln, ihre Energie und damit gleichzeitig die Fülle des Universums von uns wegzuhalten; ist sie eine verrückte Frau, werden wir dem Universum vielleicht misstrauen.

Die Beispiele liessen sich in endlosen Variationen fortführen, entscheidend ist, dass auf einer unbewussten Ebene das Erleben der Göttlichen Mutter von unserer personalen Mutterbeziehung vorgeprägt wird. Eine bewusste spirituelle Praxis kann hier segensreich einwirken, indem zunächst das Herz als Fundament und Brennpunkt spiritueller Energieaufnahme und -weitergabe über tägliche Meditation kultiviert wird. Durch das Halten dieses dritten Raumes jenseits aller personalen Abwehr- und Kontrollmechanismen erlangen wir Schritt für Schritt Zugang zu transzendenten spirituellen Resourcen. Im Idealfall erleben wir in einer Herz-Einweihung eine Referenzerfahrung, die uns nicht mehr an der alles durchdringenden, kraftvollen Existenz des Numinosen zweifeln lässt und auf die wir danach im jeweilig persönlichen Alltag zurückgreifen können. Das Herz ist hierbei mehr als nur eine Metapher. Es ist einübbare und erlernbare Realität. In der Tradition antiker Mysterienschulen werden die Wege des Herzens in unterschiedlichsten Arten und Weisen besungen, beschworen, durch Gebete eingeladen oder schlicht in Demut und Gnade gegangen. Das einmalige physische Durchströmtsein von Herzenergie kann ein so machtvolles Erleben sein, dass es einen zentralen Wendepunkt in unserer Biographie markiert. Ist der Herz-Zugang einmal etabliert, erlangen wir die Fähigkeit, uns selbst spirituell zu nähren oder besser: durch unsere Offenheit nähren zu lassen.

Jetzt wird das Herz zur Mutter und wir können die Überreste alten Denkens und Fühlens, die sich in unserer Physikalität verankert haben, mit ihm auflösen. Wir beschreiten einen neuen Weg in eine höhere Form der Liebe. Eine Sichtweise, welche die personale Mutter als eine Repräsentantin der Göttlichen Mutter sieht, ist hierbei essentiell. Denn egal wie weise oder närrisch, perfekt oder unperfekt, klagend oder juchzend, liebend oder leidend, diese Repräsentanz auch ausfallen mag, hinter ihr steht die Göttliche Mutter und die personale Mutter wird allein durch das Bereitstellen (ein seltsames Wort) ihrer Gebärmutter zu ihrer Jüngerin. Nur dadurch erlangen wir Existenz und Verkörperung und für die Schenkung dieses Lebens gebührt ihr höchster Dank. Genau an dieser Stelle schlägt die Energie dann häufig in ihr Gegenteil um und wird ohne erwachtes Herz kritisch. Da Mütter dieses naturgegeben spüren wird der Dank mehr oder weniger verblümt oder unverblümt erwartet bzw. durch Manipulation eingefordert. Können wir auch jetzt noch bewusst bleiben? Da ist das Beispiel des amerikanischen Yogalehrers, der in Indien bei seinem Guru tiefe Erleuchtungserfahrungen macht, zurückkehrt in die Staaten und sofort beginnt sehr erfolgreich Workshops zu geben. Nach einem halben Jahr beschliesst er, jetzt könne er einmal seine Eltern besuchen. Er setzt den Fuss über die Türschwelle, bekommt eine Bemerkung mit schrägem Blick von seiner Mutter und seine ganze spirituelle Energie fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wir können, um ein mythologisches Bild zu nehmen, auch sagen: die personale Mutter ist die Torhüterin auf dem Weg zur Göttlichen Mutter. Schaffen wir es nicht, vor ihr in Liebe stehen zu bleiben, wird der Weg in die transpersonalen Bereiche der Göttlichen Mutter nicht frei. Schaffen wir es nicht in Vergebung zu sein, in Freiheit, in Wahrheit, in Liebe, bleibt der Weg verschlossen. Wir scheitern an ihrer ersten Repräsentantin.

Wie sehr dieses Stehen vor ihr oder diese Beziehung von Projektionen durchsetzt ist, wird deutlich, wenn wir die unterschiedliche Wahrnehmung von Geschwistern betrachten. Da steht ein amerikanischer Mystiker am Grab seiner Mutter mit seinen beiden Brüdern und jeder der drei Männer hält eine Grabrede. Die Trauergemeinde hat den Eindruck, sie sprechen über drei völlig unterschiedliche Frauen – so weit geht die Wahrnehmung auseinander. Die Zurücknahme aller Projektionen ist daher spirituell unverzichtbar und gleichzeitig eine der am schwierigsten lebbaren Verhaltensweisen. Ist es doch in jedem Falle das Gegenüber, das projiziert und nicht wir, oder? Ganze Beziehungsromane und Opern künden von diesem einzigartigen Phänomen, und auch hier spielt die personale Mutter als allererste Projektionsfläche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Erst wenn unser Blick auf sie ein gewandelter, neutral liebender ist, wird der Weg frei in ungeahnte Sphären, die den Alltagsverstand übersteigen. Dies bedeutet dann Respekt in der eigentlichen Bedeutung des Wortes: re-spicare, zweimal schauen, genauer schauen, schlussendlich durch sie hindurch schauen. In diesem Sinne wünsche
ich eine freudvolle Selbsterkenntnis. Erkenne Deine Mutter – Erkenne Dich Selbst.


Über Thomas Young

Thomas Young, der in Deutschland geborene spirituelle Lehrer hat die Fähigkeit, Menschen zutiefst in ihrem Herzen zu berühren. Er zeichnet sich aus durch Klarheit, Liebe und einen herzerfrischenden Humor. Sein altes Ich als Filmemacher, Soziologe, Geschäftsmann starb in einer alles umwälzenden Todeserfahrung. Seitdem gibt er Workshops in Europa und den USA. Durch ständige Vortragsreisen ist er einem grösseren Publikum bekannt. Thomas Young lebt in Hawaii und Süddeutschland. Er ist Autor von Willkommen im Herzen, erschienen im Integral Verlag. www.thomasyoung.com

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