Die Wiederentdeckung der Spiritualität von Rupert Sheldrake

von Rupert Sheldrake

15. Oktober 2018

Alle Religionen kennen spirituelle Praktiken. Sie helfen Menschen dabei, nicht nur untereinander, sondern auch mit Formen des Bewusstseins in Verbindung zu treten, die über die menschliche Ebene hinausreichen.

Bis vor Kurzem hielten die meisten Atheisten und säkularen Humanisten es für selbstverständlich, dass diese Bräuche zumindest Zeitverschwendung, wenn nicht gar auch auf gefährliche Weise irrational seien. Aber die Einstellungen ändern sich, vor allem die zur Gesundheit und Wohlbefinden. Auch wenn die Medizin gewaltige Fortschritte gemacht hat, kann sie doch weder Sinnerfahrung vermitteln noch das Beziehungsleben verbessern helfen oder uns Werte wie Dankbarkeit, Grosszügigkeit und Versöhnlichkeit nahebringen. Das wird von der Medizin auch nicht erwartet. Vielmehr zählt man diese Aspekte zur Rolle der Religionen, und offenbar haben sie auf Gesundheit und Wohlbefinden enorme Auswirkungen. Neuere Forschungen zeigen, dass gläubige Menschen durchschnittlich weniger an Ängsten und Depressionen leiden als nichtgläubige, sie sind seltener suizidgefährdet, häufiger Nichtraucher und neigen weniger zum Missbrauch von Alkohol und Drogen.

Die meisten dieser Studien unterschieden nicht zwischen den Auswirkungen bestimmter spiritueller Gebräuche und Einstellungen. Jede Religion verfügt über eine grosse Anzahl verschiedener Rituale, und einige von ihnen können auch in einem säkularen Kontext ausgeübt werden, etwa die Meditation oder das Praktizieren der Dankbarkeit. Auch bei nichtgläubigen Menschen haben diese Praktiken einen günstigen Einfluss auf die körperliche und seelische Gesundheit.

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Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der Einführung von Rupert Sheldrakes neuem Buch Die Wiederentdeckung der Spiritualität (ISBN 978-3-426-29288-4). Das Buch erscheint im September 2018 im O.W. Barth Verlag.

Im 20. Jahrhundert glaubten viele Menschen, Wissenschaft und Vernunft würden bald die allein bestimmenden Kräfte sein und die Religionen nach und nach verschwinden. Die Menschheit, so meinten sie, erhöbe sich zu einer weltlichen, vernunftgeleiteten sozialen Ordnung, befreit von den Fesseln alter Dogmen und des Aberglaubens. Aber anstatt auszusterben, konnten sich die Religionen behaupten. Der Islam ist keineswegs verschwunden. Der Hinduismus ist wohlauf. Und nicht zuletzt dank des Dalai Lama ist das Ansehen des Buddhismus in Ländern gestiegen, die zuvor nicht buddhistisch orientiert waren. Das Christentum ist zwar in weiten Teilen Europas und Nordamerikas tatsächlich im Rückgang begriffen, aber seine Anhängerschaft wächst in Schwarzafrika, in Asien und im pazifischen Raum, wo es inzwischen mehr Christen als in Europa gibt. Zur Zeit der Sowjetunion war Russland offiziell atheistisch, und die Religion wurde brutal unterdrückt. Aber seit das kommunistische System 1991 endete, hat der Anteil der Christen in der Bevölkerung stark zugenommen. Im Jahr 1991 gaben 61 Prozent der Russen an, ohne Religion zu sein, 31 Prozent gehörten der russisch-orthodoxen Kirche an; 2008 dagegen bezeichneten sich nur noch 18 Prozent der Russen als nicht gläubig und 72 Prozent als orthodoxe Christen.

Als Reaktion auf diesen unerwarteten Trend bekam der militante Atheismus des 21. Jahrhunderts neuen Auftrieb. Der moderne Kreuzzug gegen die Religionen wurde von den Vertretern des sogenannten neuen Atheismus geführt, allen voran Sam Harris, Autor von Das Ende des Glaubens: Religion, Terror und das Licht der Vernunft, von Richard Dawkins mit seinem Buch Der Gotteswahn, von Daniel Dennett mit Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen und von Christopher Hitchens mit dem Buch Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet.

Die neuen Atheisten glauben nicht an Gott, aber sie haben einen unerschütterlichen Glauben an die Philosophie des Materialismus. Die Materialisten glauben, dass das gesamte Universum ohne Bewusstsein ist und aus geistloser Materie besteht, die von den unpersönlichen Gesetzen der Mathematik beherrscht wird. In der Natur gibt es weder Plan noch Ziel. Die Evolution ist Resultat des Wechselspiels zwischen blindem Zufall und physikalischer Notwendigkeit. Das Bewusstsein steckt allein im Kopf und existiert nur im Gehirn. Gott, Engel und Geistwesen sind Ideen des menschlichen Geistes: Also sind sie im Gehirn. Sie haben keine unabhängige Existenz ausserhalb des Kopfes.

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Aus der Perspektive dieses materialistischen Glaubenssystems erscheint die Religion als ein Sumpf aus Aberglauben und Irrationalismus; sie repräsentiert ein Entwicklungsstadium, dem die Menschheit entwachsen ist. Leute, die noch immer einer Religion anhängen, sind einfältig oder verblendet; sie sollten aus dem Lügengespinst, in dem sie gefangen sind, befreit werden – oder wenigstens ihre Kinder, indem man sie in der Schule aufklärt.

Die materialistische Weltanschauung hat eine grosse Rolle bei der Säkularisierung Europas und Nordamerikas gespielt und ging einher mit einem Rückgang religiösen Brauchtums, insbesondere bei Menschen mit christlichem Hintergrund. In Europa ist es heute nur noch eine kleine Minderheit, die den christlichen Glauben regelmässig ausübt. In Grossbritannien lag der Anteil regulärer Kirchgänger in der Bevölkerung 1980 bei 12 Prozent, 2015 nur noch bei 5 Prozent. Ein sehr viel grösserer Anteil, nämlich 49 Prozent, bezeichnete sich dabei als irreligiös; innerhalb der weissen Bevölkerung tat dies sogar die Mehrheit.

Von Russland abgesehen, zeigt sich der Schwund des christlichen Glaubens und Brauchtums fast überall in Europa, und zwar sowohl in protestantischen als auch in katholischen Ländern. Im traditionell katholisch geprägten Frankreich gingen 2011 nur noch 5 Prozent wöchentlich zum Gottesdienst, fast ebenso wenige wie im traditionell protestantischen Schweden. Sogar in Ländern, in denen die katholische Kirche ehemals grossen Einfluss hatte, ist die Zahl der Kirchgänger dramatisch zurückgegangen. In Irland gingen 2011 nur noch etwa 18 Prozent wöchentlich zur Messe, während es 1984 noch fast 90 Prozent waren. Selbst in Polen, dem religiösesten Land Europas, war der Anteil derer, die noch jede Woche zum Gottesdienst gingen, 2011 auf weniger als 40 Prozent geschrumpft.

Die meisten europäischen Länder sind jetzt überwiegend säkular und werden oft als «nachchristlich» bezeichnet. In den Vereinigten Staaten sind die Menschen jedoch weiterhin religiöser. 2014 gaben 89 Prozent der Amerikaner an, sie glaubten an Gott, 77 Prozent identifizierten sich mit einem Glaubensbekenntnis, und 36 Prozent besuchten wöchentlich den Gottesdienst. Der Anteil der Atheisten betrug 3 Prozent und lag damit weit niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Aber selbst in den USA lässt die Bindung an die Kirche und ihre Bräuche nach.

Alles ist jetzt im Fluss. Wie ich in meinem Buch Der Wissenschaftswahn gezeigt habe, erscheinen die Grundannahmen des Materialismus sehr fragwürdig zu sein, gerade wenn man sie im Licht der wissenschaftlichen Fortschritte betrachtet. Mittlerweile wird die blosse Existenz des menschlichen Bewusstseins zunehmend zum Problem für Materialisten, die ja von der Annahme ausgehen, dass alles aus Materie ohne Bewusstsein hervorgegangen ist, einschliesslich des menschlichen Gehirns. Wenn das so ist, wie kann dann das Bewusstsein dem Gehirn entspringen, wenn es sonst nirgends in der Natur vorkommt? Das ist das sogenannte «harte Problem» in der Philosophie des Geistes.


Über Rupert Sheldrake

Der Biologe und Bestsellerautor Rupert Sheldrake gehört zu den Vorreitern eines neuen ganzheitlichen Weltbildes, das Naturwissenschaft und Spiritualität miteinander verbindet. Bekannt geworden ist er durch seine Theorie der morphogenetischen Felder. Rupert Sheldrake hält weltweit Vorträge und ist Autor internationaler Bestseller wie Das Gedächtnis der Natur und Der Wissenschaftswahn.

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