Grüsse vom guten Leben von Martin Frischknecht

von Steven Harrison

24. März 2015

Eine Gruppe von rund zwanzig Menschen lagert unter einem weit ausladenden alten Baum. Einige sitzen auf weissen Plastikstühlen, andere haben es sich mit Matten auf dem Gras bequem gemacht.



Eine Gruppe von rund zwanzig Menschen lagert unter einem weit ausladenden alten Baum. Einige sitzen auf weissen Plastikstühlen, andere haben es sich mit Matten aufdem Gras bequem gemacht. Die Hälfte der Runde ist in der Sonne, die Hälfte im Schatten. Ab und zu steht einer auf und wechselt von Warm zu Kühl und umgekehrt. Ein laues Lüftchen umspielt die Gesichter. Am Himmel kreisen Milane und Gleitschirme, aus der Ferne ist gelegentlich der Schrei eines Pfaus und das heisere Brüllen eines Esels zu hören.

Eine junge Frau, die am Boden sitzt, stillt ihr Kind, bis es ihr in den Armen wegdöst. Ein Vater liegt auf einer Reisstrohmatte und spielt mit seinem Baby. Von ihm sind ab und zu Laute des Vergnügens zu vernehmen. Sonst ist es still. Wir sitzen im Kreis und schweigen. Die meisten halten die Augen geschlossen; einige sitzen mit offenen Augen da, blicken entspannt in die Runde. Ein Bild der Harmonie und des Friedens. Im Hintergrund erklingt leises Klappern von Küchengerät. Das Menue hängt seit Tagesanbruch an der Türe zum Essraum. Um eins wird es dampfend vor uns auf dem Tisch stehen. So lässt es sich gut sein. Wir sind Grossmütter, Väter, Mütter, Paare, Einzelne, Kinder, Schweizer, Amerikaner und Inder. Wir sind teils von weit her gekommen, um im Berner Oberland während gut einer Woche zusammenzusein. Uns verbindet ein Anliegen, das schlichter kaum sein könnte: Wir wollen nichts tun, und das konsequent. Natürlich kennen wir alle diese schönen Stunden aus unserem Alltag, in denen wir nichts zu tun haben, Momente, in denen wir uns treiben lassen und einfach sind. Das Ticken der Uhr vergessen, den Computer ausschalten, das Handy beiseite legen, den Fernseher gar nicht erst anmachen, die Agenda schliessen, durchatmen und aufschauen, den Himmel betrachten, den Ausblick, die Wolken, das Gesicht eines anderen sehen, ihm in die Augen schauen, ohne etwas von ihm zu wollen – das tut gut.

   

Es stellt sich ein Gefühl ein von «Aha, das ist es also, wozu ich ständig unterwegs bin, wofür ich mich anstrenge, wozu ich einkaufen gehe, koche, abwasche, arbeite, hin- und herfahre, telefoniere, organisiere und stresse. Darum dreht sich das ganze Geschiebe und Getriebe, dieses unablässige Streben und Machen. Das alles hat ein Ziel: Sein. Den Liegestuhl habe ich gekauft, um darin zu liegen. Dieses Buch habe ich nach Hause getragen, um es zu geniessen. Und die Welt, sie wartet nur darauf, von mir mit all meinen Sinnen wahrgenommen zu werden. Sie ist schön, wie sie ist. Um das zu erfahren, brauche ich mich bloss zu entspannen und zu sein.» Mit Schreiben hat das nichts zu tun. Gerade nicht. Denn wenn wir es recht bedenken, wenn wir uns umsehen nach der Quelle unseres Tuns, wenn wir festellen wollen, was uns Tag und Nacht umtreibt, stossen wir über kurz oder lang unweigerlich auf das Denken. In uns gibt es eine Stimme – eine mindestens! – und die sagt uns fortwährend, was Sache ist. So sehr, dass wir es uns längst zur Gewohnheit gemacht haben, das Geschwätz der Stimme für die Wirklichkeit selbst zu halten.

Das Resultat ist Geschwätz über Geschwätz und noch mehr Geschwätz. Wir glauben zwar, unser Denken sei ein Abbild von Dingen, die wir in uns und ausserhalb von uns vorfinden und uns über die Sinne zuführen. In Tat und Wahrheit beschäftigt sich unser Denken fast ausschliesslich mit sich selbst. Die Reize, die wir uns von aussen zuführen, sind fein bemessene Häppchen, die das Denken sorgfältig einteilt nach Zustimmung oder Ablehnung und im Rahmen der eigenen Vorgaben verwertet. «Die Welt als Wille und Vorstellung» hiess das beim deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Als ich vor Jahren zum ersten Mal mit Steven Harrison, dem amerikanischen Autor des Buches Nichts tun – Am Ende der spirituellen Suche (Edition Spuren, Winterthur 2000) durch Deutschland und die Schweiz unterwegs war, sassen wir in einem Eisenbahnabteil einem deutschen Philosophielehrer und dessen Frau gegenüber, die von Kanuferien im Tessin nach Berlin heimkehrten. Ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und reichte dem Herrn Oberlehrer das frisch gedruckte Buch, um ihn mit dem Herrn Autor ihm gegenüber bekannt zu machen. Der Philosophielehrer öffnete das Werk, verweilte darin einige Minuten. Er überflog zwei, drei Kapitel, dann gab mir der gelehrte Mann das Buch zurück und erklärte triumphierend: «Schopenhauer, das ist reiner Schopenhauer». Womit das Thema erledigt war. Von Schopenhauer ist beim Retreat mit Steven Harrison nicht die Rede. Die Teilnehmer kümmern sich nicht um Philosophie. Sie ringen auf ihre Weise mit den grossen und kleinen Fragen des Lebens. Marianne, eine alleinstehende Bernerin zwischen vierzig und fünfzig, drückt es so aus: «ich will einen Mann, und ich will fortwährendes Glück.» Mit schalkhaftem Lächeln versucht Steven Harrison sie sanft zur Erkenntnis zu lotsen, dass das eine mit dem anderen vielleicht nicht zu vereinbaren sei. Doch Marianne will sich in der Sache nicht dreinreden lassen.



   

Martin Frischknecht praktiziert seit Jahrzehntenverschiedene Formen von Meditation.Der Winterthurer Journalist ist Chefredakteurund Herausgeber der vierteljährlicherscheinenden Zeitschrift «SPUREN – DasLeben neu entdecken». Seinen Buchverlag«Edition Spuren» begann er vor 15 Jahrenmit der Veröffentlichung von Steven HarrisonsEssay «Nichts tun» www.spuren.ch



Von Rücksichtnahme und guten Ratschlägen hat sie genug. Sie will leben, ganz und intensiv. Das ist nun wieder typisch Denken. Mit der Absicht «intensiv leben» sagen wir mehr aus über das, was nicht ist, als über das, was da sein könnte. Wer sich nach einem intensiven Leben sehnt, signalisiert hauptsächlich, dass er mit dem Leben, welches sie oder er hier und jetzt führt, nicht zufrieden ist. Wie sollten wir auch? Mit einem Leben, das wir haben, können wir schlechterdings nicht zufrieden sein. Das liegt allerdings nicht am Leben sondern an dem, der sich einbildet, es zu haben. Denn nicht ich habe ein Leben, sondern das Leben hat mich. Natürlich klingt das spitzfindig, doch entspricht es der umwerfenden Tatsache, dass sich so etwas wie ein «Ich» bei genauerer Untersuchung in uns gar nicht finden lässt. Stattdessen gibt es eine unablässige Kette von Gedanken, die um einen Ort kreisen, auf den sie sich alle beziehen. Je rasender die Abfolge des Denkens, desto bestimmter wähnen wir deren zentralen Inhalt, das Ich. In Tat und Warheit handelt es sich um eine Leerstelle. Das merken wir, wenn wir dem Denken das Futter entziehen, wenn wir es auslaufen lassen, wenn wir uns entspannen, bis die Kette der Gedanken abreisst und sich Leerräume auftun. Zwischen den einzelnen Gedanken ist nichts, und dieses Nichts ist das Eigentliche, der Hintergrund, vor dem sich das ganze Gebrumms und Gesumms entfaltet. Mystiker und Weise aller Zeiten und Traditionen haben auf diesen Zusammenhang hingewiesen; unter Sinnsuchern und Esoterikern unserer Zeit hat sich die Kunde herumgesprochen, und alle suchen sie dem Gefängnis des automatischen Denkens zu entfliehen. Sie meditieren. Sich ruhig stellen, die Augen schliessen, auf den Atem achten und die Gedanken ziehen lassen, wie Wolken am Himmel. Und auf einmal scheint die Sonne. Sie war immer schon da, wir haben sie beim Geschiebe der Wolken nur mal kurz vergessen. Jetzt scheint die Sonne, jetzt hat sich eine Wolke davor geschoben, hinterher gleich eine zweite. Hin und her, unablässiges Kommen und Gehen. Mit der Zeit stellt sich diesem Betrieb gegenüber eine gewisse Gelassenheit ein. Wir verstehen, dass wir zum Wolkenverschieben nicht taugen und uns besser darauf verlegen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Fortwährendes Glück ist damit nicht errungen, und das «Ich» ist nicht aus der Welt geschafft. Es kommt und geht, taucht auf aus dem Nichts und entschwindet zeitweilig wieder. Machen lässt sich dafür oder dagegen

im Grunde nichts. Obwohl Meditation von vielen als Technik zum Erreichen eines abgehobenen,geklärten Bewusstseinszustandesmissverstanden wird. Was zu nichts anderemführt, als einer neuerlichen Aufblähung deseigenen Ichs, welches nun vorgibt, sich auchnoch selber aus dem Weg schaffen zu können.Dagegen helfen Kinder. Meditierende, die ihrDenken ruhig stellen wollen, gehen ihnentunlichst aus dem Weg. Sie ziehen sich zurückin die Einsamkeit abgelegener Ort, sie auferlegensich Schweigen und unterziehen sicheinem strikten Tagesablauf. Kinder haben untersolchen Vorgaben keinen Platz. Sie müssendraussen bleiben. Beim Retreat mit StevenHarrison hielten wir es umgekehrt. Wir nahmendie Kinder in unsere Mitte. Längst nichtimmer verhielten sie sich so andächtig undstill wie im eingangs beschriebenen Bild derIdylle. Das taten sie eigentlich selten. Die Kinderspielten, sie schrien, tobten und tollten.Wir nahmen‘s als Ausdruck des Lebens undachteten auf die Gefühle, die das in uns hochbrachte.Auf die Weise blieb das intensive Leben nichtlange aus. Über die Anwesenheit und dasVerhalten der Kinder wurde in der Gruppezuweilen heftig gestritten. Die Diskussionenkamen und gingen. Wie die Wolken am Himmel,wie der spitze Schrei des Pfaus im benachbartenGarten, wie das Brüllen des Esels.Kommen und gehen. Die Entschlossenheit,mit der wir dabei blieben, bescherte unsjene erhabenen Augenblicke, in denen allesstimmte und zusammenspielte. So lange ichin Gedanken daran festhalte, wird sich einneuer solcher Augenblick nicht einstellen.Der Rest ist Schweigen.


Über Steven Harrison

Steven Harrison ist ein amerikanischer Mystiker, der seit der Veröffentlichung seines Essays Nichts tun – Am Ende der spirituellen Suche (Edition Spuren, Winterthur 2000) Gemeinplätze hinterfragt und mit anderen Menschen auf Augenhöhe die Grundlagen des Lebens erforscht. Nach einer längeren Pause, während der er seine Kinder grosszog, kommt er nun wieder für Begegnungen und Dialoge nach Europa.

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